Warum Deutschland Liberalismus braucht
Analyse: Im Bundestag ist der organisierte Liberalismus nach dem Scheitern der FDP nicht mehr vertreten. Doch die Idee, wonach jeder selbst für sein Leben verantwortlich ist, bleibt politisch genauso gefragt wie früher.
Wenn der frühere FDP-Chef Guido Westerwelle die Einzigartigkeit seiner Partei herausstellen wollte, sprach er gern von den „anderen sozialdemokratischen Parteien“. Er meinte nicht nur die SPD und die Linke, sondern auch die Grünen und vor allem die Union. Ohne die Liberalen, so sein Credo, würde die Bundesrepublik in einen Fürsorgestaat zurückfallen, in dem allein die Behörden für das Wohl und Wehe der Bürger verantwortlich seien. Die Angst vor einem zu starken Staat bescherte der Westerwelle-FDP auch das beste Ergebnis – bei der Bundestagswahl 2009 mit 14,6 Prozent. Doch die Liberalen verspielten das hohe Vertrauen, das die Bürger in sie setzten. Am 22. September 2013 wurde die FDP erstmals in ihrer Geschichte aus dem Bundestag herausgewählt.
Ist Deutschland ohne den organisierten Liberalismus im Parlament nun auf dem Weg in den reinen Versorgungsstaat? Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD könnte solche Befürchtungen nähren: Mindestlohn, Rente mit 63, neue Pflegeleistungen und Aufstockung der Altersbezüge der Mütter, die vor 1992 ihre Kinder zur Welt brachten. Nicht gerade ein Paradeprogramm für mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Die liberalen Kräfte in der Union, aber auch die Wirtschaftspolitiker der SPD sehen die Entwicklung durchaus mit Sorge. In Zeiten des neuen Wohlstands, annähernder Vollbeschäftigung und gefüllter Staatskassen ist die Umverteilung wieder in Mode gekommen.
Doch das Gedankengut des Liberalismus lebt fort. Die Idee, wonach jeder in erster Linie selbst für sein Wohl und das seiner Familie verantwortlich ist, gehört zum Grundverständnis aller demokratischen Parteien. Es war die Union Ludwig Erhards, die nach dem Krieg die soziale Marktwirtschaft populär und mehrheitsfähig machte. Danach bekannte sich die Sozialdemokratie im Godesberger Programm zum wirtschaftlichen Liberalismus, den sie mit Sozialreformen einhegen wollte. Und es war die sozialliberale FDP, die sich massiv am Ausbau des Sozial- und Regulierungsstaats in den 70er Jahren beteiligte. Sie zeichnete allerdings auch 1982 für das Wendepapier verantwortlich, das den Ausstieg aus dieser ausgabefreudigen Koalition besiegelte.
Die große Zeit der Liberalen kam in den 80er Jahren – mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff. Beide brachten in den beiden ersten Regierungen von Helmut Kohl (1982–1990) viele liberale Gedanken ein: die Sanierung des Haushalts, die Privatisierung von Staatsunternehmen, die Senkung der Einkommensteuer, die Verringerung der Subventionen.
Doch nach dem Aufstieg kam im Gefolge der Einheit der langsame Niedergang der Liberalen. Erhielten sie in den ersten gesamtdeutschen Wahlen noch ein Traumergebnis von elf Prozent, so verschwanden sie während der schwierigen Umgestaltung der DDR-Wirtschaft aus vielen Landtagen und hatten Mühe, sich im Bundestag zu halten. Immerhin: Der Verkauf der ostdeutschen Staatsunternehmen über die Treuhand und der Verzicht auf Milliardensubventionen für marode DDR-Firmen atmeten den Geist des Liberalismus. Ausgeführt hat das vornehmlich die liberale Treuhand-Chefin Birgit Breuel, die der CDU angehörte.
Auch danach übernahmen andere Parteien verstärkt Anleihen bei den Liberalen. Rot-Grün begann 2002 mit der Agenda 2010, der schärfsten Liberalisierung des Arbeitsmarkts seit 1949. Die heute mächtigsten Politikerinnen der CDU, Angela Merkel und Ursula von der Leyen, schufen mit dem Leipziger Programm von 2003 das marktliberalste Grundsatzpapier der Union seit ihrem Bestehen. Steuersenkungen, Gesundheitsprämie und tarifliche Öffnungsklauseln beherrschten diesen Ansatz, der allerdings beim Wähler 2005 eher durchfiel und Merkel das enttäuschendste Wahlergebnis ihrer Laufbahn bescherte. Seitdem ist die CDU-Vorsitzende vorsichtiger geworden, und ihre Mitstreiterin von der Leyen sogar zur Sozialpolitikerin mutiert. Im Innersten behielten sie aber liberale Ansichten bei. Dass Homo-Ehe, ein modernes Scheidungsgesetz oder die Emanzipation der Frau bei der Union salonfähig wurden, ist auch das Verdienst dieser beiden Christdemokratinnen.
In der schwarz-gelben Koalition erlitt der Liberalismus hingegen Schiffbruch. Die ehrgeizigen Steuerpläne Westerwelles und die Durchsetzung der Bürgerrechte gegen einen zunehmenden Überwachungsstaat scheiterten am Widerstand der Union. Auch hier zeigen sich die Ideen stärker als die Partei. Nach dem Überwachungsskandal durch den US-Geheimdienst NSA ist die Frage des informationellen Selbstbestimmungsrechts ganz oben auf der Agenda. Im Bereich des ausufernden Sozialstaats hat der CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble die Daumenschrauben angezogen.
Liberale Politik ist ohne die FDP möglich. Doch wie beständig ist sie als Grundhaltung ohne die organisierte Kraft der Liberalen? Der ehemalige FDP-Haushaltsexperte Otto Fricke ist skeptisch. „Die Diskussionen im Bundestag laufen jetzt schon nach dem Schema: Wie viel sozial ist möglich“, meint das Mitglied des FDP-Bundesvorstands. „Wir brauchen aber die Mahner und Warner im Parlament. Und die fehlen jetzt.“ Für ihn ist wie für viele Liberale die Trennlinie zwischen innerer Überzeugung und oberflächlicher Liberalität, wie man zum Staat steht. Ist der Staat eine Einrichtung von freien Bürgern, die ihm aus Zweckmäßigkeit Rechte verleihen? Oder ist er das übergeordnete Ganze, das Freiheitsrechte gewährt? Die sogenannten Liberalen in anderen Parteien sind laut Fricke eher dem zweiten Typ zuzuordnen. Auch die Kanzlerin und die meisten Unions-Minister sieht er als eher staatsgläubig an. Nach dieser Definition gibt es auch bei den Grünen wenige echte Liberale. Die beiden Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt sind pragmatisch, glauben aber eher an die Allzuständigkeit staatlicher Institutionen oder Kollektive.
Ist die Liberalität ohne FDP oberflächlich? Nicht ganz. Ausgerechnet bei manchen SPD-Politikern sind liberale Ansichten anzutreffen. So hat das Arbeitsministerium im neuen Super-Staatssekretär Jörg Asmussen einen marktfreundlichen Beamten. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel hat zwei Staatssekretäre in seinem Wirtschaftsministerium, die gegensätzlicher kaum sein könnten: den wirtschaftsfeindlichen Rainer Baake, verantwortlich für Energiefragen, und den wirtschaftsfreundlichen FDP-Mann Stefan Kapferer als Mann für Industrie und Außenwirtschaft. Je nachdem, wer sich durchsetzen darf, könnte Gabriel – ähnlich wie sein Vorbild Gerhard Schröder – noch ein spätberufener Liberaler werden.